Es gibt 2 Urteile des Bundesverwaltungsgerichts: vom 26.08.2008 (1 C 32.07) und vom 16.11.2010 (1 C 21.09).blankerhans hat geschrieben: ↑Do 27. Sep 2018, 00:40 (...)
@tigerlaw: Sehr spannend, danke. Wo finde ich das erwähnte Urteil des Bundesverwaltungsgerichts? Welches Argument hat Deiner Meinung nach dieses Gericht bei seinem höchstrichterlichen (?) Urteil nicht beachtet?
(...)
Im Urteil von 2008 heißt es wörtlich (Rn 20 + 21):
Der Schwerpunkt im Urteil von 2010 lag darauf, dass auch der Unterhalt der übrigen Familienmitglieder gesichert sein muss; das Urteil von 2008 wird nur in einem Verweis zitiert (Rn 15 und 20)Randnummer21
Der Senat folgt damit nicht der von der Revision und auch in der Rechtsprechung und im Schrifttum vertretenen Auffassung, wonach der Freibetrag bei Erwerbstätigkeit nach § 30 SGB II und die Pauschale nach § 11 Abs. 2 Satz 2 SGB II bei der Einkommensermittlung im Rahmen von § 2 Abs. 3 AufenthG deshalb nicht abzusetzen seien, weil sie einem anderen Zweck als dem der Existenzsicherung dienten. Es handele sich um arbeitsmarktpolitische Maßnahmen zur Verbesserung der Hinzuverdienstmöglichkeiten nach dem SGB II, mit denen nicht bezweckt gewesen sei, nachteilige Auswirkungen im Bereich des Ausländerrechts herbeizuführen und insbesondere die Voraussetzungen für den Familiennachzug oder die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis zu verschärfen. Die Höhe dieser Abzugsbeträge sei im Vergleich zur bisherigen Rechtslage so erheblich, dass sie trotz voller Erwerbstätigkeit häufig nicht zusätzlich erwirtschaftet werden könnten. Es handle sich zudem um fiktive Abzugsbeträge, die die tatsächlich zur Deckung des Lebensunterhalts zur Verfügung stehenden Mittel nicht minderten. Der Gefahr, dass die deutschen Sozialsysteme durch eine Nachzugsgenehmigung in derartigen Fällen belastet würden, könne dadurch begegnet werden, dass der Ausländer nach § 55 Abs. 2 Nr. 6 AufenthG ausgewiesen oder die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis wegen Vorliegens eines Ausweisungsgrundes nach § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG abgelehnt werden könne, wenn er nach seiner Einreise tatsächlich ergänzende Sozialhilfeleistungen in Anspruch nehme (vgl. VG Berlin, Urteil vom 23. September 2005 - 25 A 329/02 - InfAuslR 2006, 21; VGH Kassel, Beschluss vom 14. März 2006 - 9 TG 512/06 - AuAS 2006, 146 - allerdings nur bezüglich des Erwerbstätigenfreibetrags; VG Lüneburg, Urteil vom 18. Januar 2007 - 6 A 353/05 - InfAuslR 2007, 241 -, im Ergebnis ebenso OVG Lüneburg, Urteil vom 29. November 2006 - 11 LB 127/06 - juris; VG Berlin, Urteil vom 1. Dezember 2005 - 29 V 20.05 - juris; Funke-Kaiser, in: GK-Aufenthaltsgesetz II, Stand: Januar 2008, § 2 Rn. 46; im Ergebnis ebenso Hailbronner, Ausländerrecht, Stand: April 2008, § 2 AufenthG Rn. 25 ff.; vgl. zum Meinungsstand auch den Siebten Bericht über die Lage der Ausländerinnen und Ausländer in Deutschland, BTDrucks 16/7600 S. 108 f.).
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Diese Argumentation überzeugt nicht. Die maßgebliche Bestimmung des § 2 Abs. 3 AufenthG ist vielmehr in Übereinstimmung mit den Vorinstanzen dahingehend auszulegen, dass sämtliche in § 11 Abs. 2 SGB II genannten Beträge bei der Ermittlung des Einkommens abzusetzen sind, weil der Lebensunterhalt dann nicht gesichert ist, wenn ein Anspruch auf (aufstockende) Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II besteht. Dies lässt sich zwar nicht schon aus dem Wortlaut der Vorschrift herleiten. Denn die Formulierung, der Ausländer müsse seinen Lebensunterhalt ohne Inanspruchnahme öffentlicher Mittel bestreiten "können", lässt auch eine Interpretation im Sinne der Auffassung der Revision zu. Es ergibt sich aber aus dem Sinn und Zweck der Vorschrift in Verbindung mit den Gesetzesmaterialien und der systematischen Stellung im Rahmen des Aufenthaltsgesetzes. Der Sinn und Zweck der Regelung besteht, wie das Berufungsgericht zutreffend ausführt, darin, neue Belastungen für die öffentlichen Haushalte zu vermeiden. Die Lebensunterhaltssicherung nach § 5 Abs. 1 Nr. 1, § 2 Abs. 3 AufenthG wird in der Begründung des Gesetzentwurfs als eine der Erteilungsvoraussetzungen von grundlegendem staatlichen Interesse und als wichtigste Voraussetzung, um die Inanspruchnahme öffentlicher Mittel zu verhindern, bezeichnet (BTDrucks 15/420 S. 70). Dies spricht dafür, dass im Falle eines voraussichtlichen Anspruchs auf öffentliche Mittel - sofern sie nicht ausdrücklich nach § 2 Abs. 3 Satz 2 AufenthG außer Betracht zu bleiben haben - der Lebensunterhalt nicht als gesichert angesehen werden kann, da dann auch eine Inanspruchnahme dieser Mittel zu erwarten oder jedenfalls nicht auszuschließen ist. Ob die Leistungen tatsächlich in Anspruch genommen werden, ist nach dem gesetzgeberischen Regelungsmodell unerheblich. Dies wird u.a. auch durch die Begründung des Gesetzentwurfs zu § 27 Abs. 3 AufenthG bestätigt, in der zu dem vergleichbaren Erfordernis des Angewiesenseins auf Leistungen nach dem Zweiten und Zwölften Buch des Sozialgesetzbuchs ausgeführt wird, es komme wie im bisherigen Recht "nur auf das Bestehen eines Anspruchs auf Sozialhilfe, d.h. das Vorliegen der Voraussetzungen, nicht auf die tatsächliche Inanspruchnahme an" (BTDrucks 15/420 S. 81).
Allerdings muss ich meine Argumente in den letzten Beiträgen etwas modifizieren: Die ersten 100 € Freibetrag sind ja die (pauschalisierten) Werbungskosten, also Ausgaben, die zwingend im Zusammenhang mit der Erwerbstätigkeit anfallen. Deshalb mag auch noch dieser "Grundfreibetrag" bei der Prüfung berücksichtigt werden, ob mit eigenem Einkommen eine Bedürftigkeit überwunden würde. In diesem Betrag ist aber auch die "Versicherungspauschale" in Höhe von 30,00 € enthalten!