LSG FSB - L 7 AS 222/12 B ER - aufschiebende Wirkung

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Koelsch
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LSG FSB - L 7 AS 222/12 B ER - aufschiebende Wirkung

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Beitrag von Koelsch »

eines Widerspruchs gegen einen Entziehungsbescheid nach § 66 SGB I
Seit der Neufassung des § 39 SGB II zum 01.04.2011 ist eine Entziehung der bewilligten Leistung nach § 66 Abs. 1 Satz 1 SGB I nicht mehr sofort vollziehbar gemäß § 39 Nr. 1 SGB II. Ein Widerspruch hat daher automatisch gemäß § 86a Abs. 1 SGG aufschiebende Wirkung (ebenso LSG Hessen, Beschluss vom 16.01.2012, L 6 AS 570/11 B ER). Diese kraft Gesetzes bestehende aufschiebende Wirkung ist durch einen deklaratorischen Beschluss analog § 86b Abs. 1 Satz 1 SGG festzustellen, da die Behörde diese bestreitet (vgl. Keller in Meyer-Ladewig, Sozialgerichtsgesetz, 10. Auflage 2012, § 86b Rn. 15).
LSG FSB Beschluss - 12.04.2012 - L 7 AS 222/12 B ER 1 / 3
Bayerisches Landessozialgericht
Beschluss (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht München S 16 AS 421/12 ER
Bayerisches Landessozialgericht L 7 AS 222/12 B ER
I. Die Beschwerde gegen den Beschluss des Sozialgerichts München vom 29. Februar 2012 wird zurückgewiesen.
Der Beschluss des Sozialgerichts München vom 29. Februar 2012 wird dahingehend abgeändert, dass die
aufschiebende Wirkung des Widerspruchs gegen den Entziehungsbescheid vom 02.02.2012 festgestellt wird
II. Der Beschwerdeführer hat dem Antragsteller die notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Gründe:
I.
Zwischen den Beteiligten ist eine Entziehung von Arbeitslosengeld II wegen fehlender Mitwirkung des
Antragstellers nach § 66 Erstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB I) strittig.
Der 1964 geborene Antragsteller und Beschwerdegegner bezieht seit Mitte 2006 Arbeitslosengeld II vom
Antragsgegner.
Im Oktober 2011 kündigte der Antragsgegner dem Antragsteller eine Einladung zur Untersuchung beim
psychologischen Dienst der Agentur für Arbeit an. Ein dagegen vom Antragsteller angestrengtes Eilverfahren (Az. S
16 AS 2822/11 ER) blieb erfolglos. Die Agentur für Arbeit bestellte den Antragsteller Ende Oktober 2011 zu
psychologischen Untersuchung am 04.11.2011 ein. Der Antragsteller nahm den Termin nicht wahr.
Am 21.11.2011 beantragte der Antragsteller Leistungen zur Sicherung seines Lebensunterhalts "nach dem
Grundgesetz". Die Vorschriften des SGB II seien verfassungswidrig. Mit Bescheid vom 05.12.2011 (S. 1223 der
Verwaltungsakte) lehnte der Antragsgegner die Weitergewährung von Leistungen ab. Es bestehe lediglich eine
sachliche Zuständigkeit für Leistungen nach dem SGB II, nicht für Leistungen direkt nach dem Grundgesetz.
Der Antragsteller legte gegen den Ablehnungsbescheid Widerspruch ein und beantragte gleichzeitig einstweiligen
Rechtsschutz beim Sozialgericht München. Mit Beschluss vom 12.01.2012 (Az. S 16 AS 3250/11 ER) verpflichtete
das Sozialgericht München den Antragsgegner für Januar 2012 vorläufig 777,60 Euro zu gewähren sowie für die
Monate Februar bis Juni 2012 jeweils 814,- Euro. Zur Umsetzung dieses Beschlusses verfügte der Antragsgegner
den Bescheid vom 23.01.2012 (S. 1264). Er bewilligte darin "aufgrund vorliegenden Beschluss des Sozialgerichts
München" Leistungen gemäß § 40 Abs. 2 Nr. 1 SGB II i.V.m. § 328 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 Drittes Buch
Sozialgesetzbuch (SGB III) in der vom Sozialgerichts verfügten Höhe zuzüglich 10,- Euro monatlich infolge der
Erhöhung des Regelbedarfs.
Mit Bescheid vom 02.02.2012 (S. 1289) entzog der Antragsgegner dem Antragsteller die bewilligten Leistungen ab
01.03.2012 vollständig gemäß §§ 62, 66 SGB I. Der Antragsteller sei darüber informiert worden, dass aufgrund
seiner wiederholten schriftlichen Äußerungen bzw. Verunglimpfungen Zweifel an seiner Erwerbsfähigkeit
bestünden. Der Antragsteller sei trotz Rechtsfolgenbelehrung der Einladung zu Untersuchung zum psychologischen
Dienst nicht gefolgt.
Der Antragsteller legte gegen den Einziehungsbescheid am 14.02.2012 Widerspruch ein, über den noch nicht
entschieden ist. Ebenfalls am 14.02.2012 stellte der Antragsteller beim Sozialgericht München einen Antrag auf
einstweiligen Rechtsschutz. Mit Beschluss vom 29.02.2012 ordnete das Sozialgericht die aufschiebende Wirkung
des Widerspruchs gegen den Einziehungsbescheid an. Der Einziehungsbescheid falle unter § 39 Nr. 1 SGB II und
sei deshalb sofort vollziehbar. Es bestünden jedoch ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit dieses Bescheids. Es
handele sich um einen Verstoß gegen eine Meldepflicht nach § 59 II i.V.m. § 309 SGB III, der lediglich nach § 32
SGB II zu sanktionieren sei, nicht aber nach § 66 SGB I.
Der Antragsgegner hat am 09.03.2012 Beschwerde gegen den Beschluss des Sozialgerichts eingelegt. Bei einer
Einziehung nach § 66 SGB I und einer Sanktion nach § 32 SGB II handle es sich um zwei verschiedene
Verfahrensarten, die nebeneinander stünden. Eine Sanktion nach § 32 SGB II diene der Arbeitsvermittlung und
unterscheidet sich hinsichtlich Voraussetzungen und Rechtsfolgen von einem Verfahren nach §§ 60 ff SGB I, das
der Prüfung der Leistungsberechtigung diene.
Der Antragsgegner beantragt,
den Beschluss des Sozialgerichts München vom 29.02.2012 aufzuheben und den Antrag auf Anordnung der
aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs gegen den Entziehungsbescheid vom 02.02.2012 abzulehnen.
Der Antragsteller beantragt sinngemäß,
die Beschwerde zurückzuweisen.
LSG FSB Beschluss - 12.04.2012 - L 7 AS 222/12 B ER 2 / 3
Der Antragsteller hat zur Beschwerde dahingehend Stellung genommen, dass das Gericht ihm mitteilen möge, ob
er als natürliche oder juristische Person angeschrieben worden sei. Er berufe sich auf die Grundgesetzartikel 1, 2,
3, 4, 5, 8, 9, 10, 11, 12, 13, 14, 15, 16, 17, 18, 19, 20 und 21 sowie § 1 BGB und die Konvention zum Schutz der
Menschenrechte und Grundfreiheiten.
Im Übrigen wird zur Ergänzung des Sachverhalts auf die Akte des Antragsgegners, die Akte des Sozialgerichts und
die Akte des Beschwerdegerichts verwiesen.
II.
Die Beschwerde ist zulässig, insbesondere form- und fristgerecht erhoben (§ 173 Sozialgerichtsgesetz - SGG). Die
Beschwerde ist unbegründet, weil das Sozialgericht den Vollzug des Entziehungsbescheids im Ergebnis zu Recht
unterbunden hat. Der Tenor des sozialgerichtlichen Beschlusses wurde aus Gründen der Klarheit der Entscheidung
neu gefasst.
Streitgegenstand ist, ob der Entziehungsbescheid vom 02.02.2012 vollzogen werden darf oder der dagegen
erhobene Widerspruch aufschiebende Wirkung hat.
Seit der Neufassung des § 39 SGB II zum 01.04.2011 ist eine Entziehung der bewilligten Leistung nach § 66 Abs. 1
Satz 1 SGB I nicht mehr sofort vollziehbar gemäß § 39 Nr. 1 SGB II. Ein Widerspruch hat daher automatisch
gemäß § 86a Abs. 1 SGG aufschiebende Wirkung (ebenso LSG Hessen, Beschluss vom 16.01.2012, L 6 AS
570/11 B ER). Diese kraft Gesetzes bestehende aufschiebende Wirkung ist durch einen deklaratorischen
Beschluss analog § 86b Abs. 1 Satz 1 SGG festzustellen, da die Behörde diese bestreitet (vgl. Keller in
Meyer-Ladewig, Sozialgerichtsgesetz, 10. Auflage 2012, § 86b Rn. 15).
Für die bis zum 31.03.2011 geltende Fassung von § 39 SGB II hat der erkennende Senat den Sofortvollzug einer
Entziehung nach § 66 SGB I bejaht, weil in der damaligen Fassung von § 39 Nr. 1 SGB II auch Verwaltungsakte
erfasst waren, die "Leistungen der Grundsicherung für Arbeitssuchende ... herabsetzten". Unter diesen weiten
Begriff fiel auch die Entziehung von Leistungen (BayLSG, Beschluss vom 11.04.2011, L 7 AS 214/11 B ER).
In der ab 01.04.2011 geltenden Fassung (Gesetz zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Änderung des Zweiten
und Zwölften Buches Sozialgesetzbuch vom 24.03.2011, BGBl I, S. 453) wurde die Herabsetzung gestrichen und
die Wendung "die Pflichtverletzung und die Minderung des Auszahlungsanspruchs feststellt" eingefügt. Diese
Wendung bezieht sich nach dem Wortlaut und ausweislich der Gesetzesbegründung (vgl. BT-Drucks. 17/3404, S.
114) auf Sanktionen nach §§ 31 ff SGB II. Damit enthält die abschließende Aufzählung in § 39 Nr. 1 SGB II
nunmehr nur noch präzise Fachbegriffe des Verwaltungsverfahrensrechts, ohne die Entziehung nach § 66 SGB I zu
erfassen. Eine erweiternde Auslegung des § 39 Nr. 1 SGB II ist angesichts des Ausnahmecharakters dieser
Vorschrift nicht möglich.
Ein Entziehungsbescheid eines Jobcenters wird auch nicht von § 86a Abs. 2 Nr. 2 SGG erfasst, weil dort nur der
Sofortvollzug von Entziehungsbescheiden der Bundesagentur für Arbeit angeordnet wird. Das Sozialgerichtsgesetz
unterscheidet auch sonst die Aufgaben der Bundesagentur für Arbeit und die Angelegenheiten der Grundsicherung
für Arbeitssuchende, vgl. § 51 Abs. 1 Nr. 4 und 4a SGG (Keller, a.a.O., § 86a Rn. 14).
Selbst wenn man - wie das Sozialgericht - davon ausginge, dass § 39 Nr. 1 SGB II noch immer den Sofortvollzug
eines Entziehungsbescheids anordnen würde, müsste der Vollzug dieses Bescheids im Eilverfahren unterbunden
werden, weil dieser Bescheid rechtswidrig ist.
Der Bescheid vom 23.01.2012 dient erkennbar dem Vollzug des Beschlusses des Sozialgerichts vom 12.01.2012
im vorangegangenen Eilverfahren S 16 AS 3250/11 ER. Dass dieser Bescheid zu Unrecht als vorläufige
Entscheidung nach § 328 SGB III erging (diese Vorschrift setzt voraus, dass die Behörde selbst einen
Leistungsanspruch mit hinreichender Wahrscheinlichkeit dem Grunde nach bejaht) und nicht nur als reiner
Ausführungsbescheid ohne weitere Rechtsgrundlage, ändert daran nichts.
Beschlüsse des Sozialgerichts im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes entfalten formelle und materielle
Rechtskraft. Sie schaffen eine für die Beteiligten endgültige Entscheidung über eine vorläufige Regelung (Krodel,
Das sozialgerichtliche Eilverfahren, 2. Auflage 2008, Rn. 40; Keller, a.a.O., § 86b Rn. 19a und 44a). Die Behörde ist
aufgrund der Rechtskraft der gerichtlichen Entscheidung gezwungen, die ihr im Eilverfahren auferlegten Leistungen
zur erbringen. Dies gilt soweit, wie die materielle Rechtskraft reicht, also über den Streitgegenstand entsprechend §
141 SGG entschieden wurde.
Diese Leistungsverpflichtung entfällt nur, wenn sie im Beschwerdeverfahren vom LSG aufgehoben wird, ein
Abänderungsbeschluss ergeht (vgl. Keller, a.a.O., § 86b Rn. 20 und 45), in der Hauptsache eine ablehnende
Entscheidung bestandskräftig wird (vgl. Keller, a.a.O. zur aufschiebenden Wirkung § 86b Rn. 19a) oder sich ein
neuer Streitgegenstand ergibt. Vorläufig wird die Leistungsverpflichtung aufgeschoben, wenn die Vollstreckung vom
Vorsitzenden des Beschwerdegerichts nach § 199 Abs. 2 SGG ausgesetzt wird oder vom Sozialgericht nach § 175
Satz 3 SGG.
Derartige Ereignisse liegen hier nicht vor. Insbesondere betrifft das Bestreiten der Erwerbsfähigkeit im
LSG FSB Beschluss - 12.04.2012 - L 7 AS 222/12 B ER 3 / 3
Entziehungsbescheid die Voraussetzungen der vorläufigen Leistungsverpflichtung. Der Antragsgegner kann
deshalb den Vollzug des sozialgerichtlichen Beschlusses vom 12.01.2012 nicht dadurch unterlaufen, indem er die
Entziehung der vom Sozialgericht angeordneten Leistung verfügt und vollzieht.
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von § 193 SGG.
Frei nach Hanns-Dieter Hüsch, ist der Kölner überhaupt zu allem unfähig. Er weiß nix, kann aber alles erklären.
Deshalb kann von mir keine Rechtsberatung erfolgen, auch nicht per e-mail oder PN.
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