S 4 SO 1302/09 - Schmerzensgeld anrechnungsfrei

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Emmaly
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S 4 SO 1302/09 - Schmerzensgeld anrechnungsfrei

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Beitrag von Emmaly »

SG Karlsruhe Urteil vom 27.1.2010, S 4 SO 1302/09

Schmerzensgeld in der Sozialhilfe

Leitsätze

Schmerzensgeld bleibt bei der Berechnung der Sozialhilfe regelmäßig anrechnungsfrei. Das gilt auch für Erträge aus Schmerzensgeldzahlungen. Zu den Anforderungen an die Herkunft eines Vermögensbestandteils bei gemischter Schmerzensgeld- und Schadensersatzzahlung.

Tenor

Der Bescheid des Beklagten vom 6. Oktober 2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 10. Februar 2009 und beide in der Fassung des Teilanerkenntnisses vom 27. Januar 2010 wird abgeändert und der Beklagte verurteilt, dem Kläger für die Zeit ab Antragstellung (April 2008) Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach dem Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch (SGB XII) in gesetzlicher Höhe ohne Anrechnung des 1995 erlangten Schmerzenzgeldes in Höhe von 100.000 DM (= 51.129,19 EUR) bei zum Antragszeitpunkt noch vorhandenem Vermögen von 29.629,42 EUR zu gewähren.

Der Beklagte hat dem Kläger die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Verfahrens zu erstatten.

Tatbestand

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Der Kläger begehrt von dem Beklagten sozialhilferechtliche Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung.
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Der am … Oktober 1972 geborene Kläger, ein Kaufmann, erlitt im Mai 1991 einen schweren Pkw-Verkehrsunfall. Dabei zog er sich vor allem ein schweres Schädelhirntrauma zu.
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Laut arbeitsamtsärztlichen Gutachten nach Aktenlage von Dr. T. Bundesagentur für Arbeit, Agentur für Arbeit ... vom 27. Februar 2008 lagen beim Kläger folgende arbeitsmarktvermittlungs- und beratungsrelevante Gesundheitsstörungen vor:
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- Hirnorganische Wesensveränderung bei Zustand nach schwerem Schädel-Hirn-Trauma (Autounfall Mai 1991 mit Hirnblutung)
- Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom
- chronische Außenbandinstabilität des linken oberen Sprunggelenks und
- Übergewicht.
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Aufgrund der festgestellten Gesundheitsstörungen sei der Kläger arbeitstäglich weniger als drei Stunden auch mit nur körperlich leichten Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes belastbar. Der Zustand bestehe auf Dauer. Selbst für eine Werkstatt für behinderte Menschen bestehe kein ausreichendes Leistungsvermögen.
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Daraufhin lehnte die Bundesagentur für Arbeit, Agentur für Arbeit ..., den Antrag des Klägers über die Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II mit Bescheid vom 3. April 2008 bestandskräftig ab.
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Am 24. April 2008 beantragte der Kläger beim Beklagten dann formblattgemäß Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach dem SGB XII. Zur Begründung führte er aus, er verfüge über kein Einkommen, habe aber monatliche Mietkosten in Höhe von 252,-- EUR (ohne Heizkosten). Die Heizkosten machten monatlich 40,-- EUR (Abschlagszahlung) aus. Er bewohne eine Einzimmerwohnung mit einer Wohnfläche von 35 qm. Des Weiteren sei er als Schwerbehinderter (GdB 60) anerkannt. Kopien des Mietvertrages und des Schwerbehindertenausweises fügte er bei.
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Derzeit bestreite er seinen Lebensunterhalt aus Vermögen. Bei diesem Vermögen handele es sich um Fondsvermögen, das aus einer Schmerzensgeldzahlung aus seinem 1991 erlittenen Unfall herrühre. Zum Nachweis legte er ein an die Versicherunggerichtetes Schreiben seines damaligen Bevollmächtigten vom 3. März 1995 vor, wonach ihm die Versicherung unter Abgeltung der Schadensersatzansprüche aus dem Verkehrsunfall vom 3. Mai 1991 einen Betrag von 425.000,-- DM zahlte. Die 425.000,-- DM verteilten sich wie folgt:
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Verdienstausfall 211.000,00 DM
Schmerzensgeld 100.000,00 DM
Verlust i. d. Arbeitslosen- u. Rentenversicherung 16.000,00 DM
vermehrte Bedürfnisse im Haushalt und anderswo 83.000,00 DM
sonstige Sachschadenspositionen 15.000,00 DM
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Des Weiteren legte der Kläger dem Beklagten einen auf den 25. Januar 2008 datierenden Bescheid der Deutschen Rentenversicherung ... vor, mit dem ein Antrag des Klägers auf die Gewährung von Rente wegen voller Erwerbsminderung abgelehnt worden war, weil die erforderliche Wartezeit von 20 Jahren mit anrechenbaren Zeiten nicht erfüllt sei.
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Auf Aufforderung des Beklagten legte der Kläger darüber hinaus Kontoauszüge und ein Schreiben der Lebensversicherung vom 27. Mai 2008 vor. Darin hieß es, der Kläger habe die Police am 1. November 2001 abgeschlossen; der Vertrag laufe zum 31. Oktober 2013 aus. Zum 1. Juni 2008 sei ein Rückkaufwert der Lebensversicherung in Höhe von 41.440,10 EUR vorhanden. Dieser Rückkaufwert sei aber mit einem Policendarlehen von 15.000 EUR belastet. Des Weiteren legte der Kläger ein auf den 31. Juli 2008 datiertes Schreiben der Lebensversicherung vor. Danach betrug der Rückkaufwert der vom Kläger abgeschlossenen Lebensversicherung zum 1. März 2009 einschließlich Überschussbeteiligung einen Betrag von 57.142,81 EUR. Davon seien Kapitalertragssteuer und Solidaritätszuschlag sowie ein Policendarlehen abzuziehen, so dass eine Gesamtleistung bei Rückkauf von 29.629,42 EUR bestehe.
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Im Folgenden forderte der Beklagte den Kläger mit Schreiben vom 20. August 2008 auf, Nachweise über den Geldfluss des im Jahre 1995 gezahlten Schmerzensgeldes vorzulegen; das Schmerzensgeld sei 1995 ausgezahlt worden, der Lebensversicherungsvertrag aber erst im Jahre 2001 abgeschlossen worden. Es werde gebeten nachzuweisen, wo das Geld in der Zwischenzeit geblieben sei (Sparbuch, Fonds, etc.). Erst nachdem lückenlos nachgewiesen worden sei, dass das dem Kläger 1995 ausgezahlte Schmerzensgeld auch tatsächlich das Geld sei, welches 2001 in den Lebensversicherungsvertrag eingeflossen sei, könne über den Leistungsanspruch entschieden werden.
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Daraufhin erklärte der Kläger unter dem 2. September 2008 unter Versicherung an Eides statt, nicht mehr zu wissen, wo das Schmerzensgeld in der Zeit der Auszahlung 1995 bis zum Abschluss des Lebensversicherungsvertrages 2001 gelagert worden sei. Aufgrund seiner Verletzungen durch den Unfall habe er erhebliche Erinnerungsprobleme und verfüge auch über keine Nachweise mehr, wie er das Geld angelegt gehabt habe. Er gehe davon aus, dass es bei einer Bank auf einem Konto angelegt gewesen sei, habe aber hierfür keine Nachweise. Das im Versicherungsvertrag angelegte Geld sei aber ausschließlich das 1995 ausgezahlte Schmerzensgeld. Dies versichere er.
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Mit Bescheid vom 6. Oktober 2008 lehnte es der Beklagte sodann ab, dem Kläger Grundsicherungsleistungen bei Erwerbsminderung zu gewähren. Zur Begründung führte er aus, der Kläger sei zwar dauerhaft voll erwerbsgemindert, er könne aber seinen Lebensunterhalt noch aus eigenem Vermögen selbst bestreiten. Derzeit verfüge er über ein Vermögen von 29.629,42 EUR (Versicherung Nr. ...). Dieses zu berücksichtigende Vermögen liege über der Vermögensfreigrenze von 2.600,-- EUR. Zwar sei es richtig, dass Schmerzensgeld als zweckgebundenes Vermögen nicht zur Deckung des Lebensunterhalts eingesetzt werden müsse. Somit sei es grundsätzlich nicht als verrechnungsfähiges Vermögen zu werten. Dies gelte aber nur dann, wenn die Anlegung des Schmerzensgeldes in Versicherungen, Wertpapieren, Sparkonten oder ähnlichem lückenlos seit Auszahlung bis zur Antragstellung auf Leistungen zur Grundsicherung nachgewiesen werden könne. Dieser Nachweis sei dem Kläger vorliegend nicht gelungen. Deshalb sei das Schmerzensgeld nur anteilig entsprechend der Auszahlung 1995 aus dem Kapital der bestehenden Lebensversicherung heraus zurechnen. Der Anteil der Schmerzensgeldzahlung an der Gesamtsumme der Schmerzensgeldleistung habe 23,52 % betragen (51.129,18 EUR von 217.299,04 EUR). Entsprechend sei der Rückkaufwert der Versicherung aufgeteilt worden. Der Schmerzensgeldanteil von 23,52 % liege bei 6.969,83 EUR. Dieser Betrag sei zweckgebunden und stehe der Gewährung von Sozialhilfe nicht entgegen. Der Restbetrag der Lebens- und Rentenversicherung von 22.660,58 EUR sei aber als vorrangig einzusetzendes Vermögen zu bewerten. Solange dieses Vermögen vorhanden sei, komme der Einsatz von sozialhilferechtlichen Grundsicherungsmitteln nicht in Betracht.
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Den am 28. Oktober 2008 erhobenen Widerspruch gegen den Ablehnungsbescheid begründete der Kläger wie folgt: Im Jahr 1991 habe er noch als Schüler, der kurz vor dem Abitur gestanden habe, einen schweren Autounfall erlitten. 1995 habe er dann von der Versicherung Entschädigungszahlungen erhalten, die er teilweise angelegt und von denen er dann auch gelebt habe. Geblieben sei ihm nur noch die ...Rentenversicherung, die er inzwischen auch schon ein paar Mal habe beleihen müssen. In seiner eidesstattlichen Versicherung habe er bestätigt, dass es sich bei dieser Rentenversicherung um die Anlage seines Schmerzensgeldes gehandelt habe. Dieses Schmerzensgeld sei zunächst in einem Fonds angelegt gewesen. Dieser sei dann auf Anraten eines Versicherungsvertreters aufgelöst und zur Alterssicherung umgewandelt worden. Er bitte zu überprüfen, ob in seinem Fall nicht § 90 Abs. 3 SGB XII maßgebend sei, der besage, dass eine Verwertung des Vermögens nicht zum Einsatz kommen dürfe, wenn dadurch die Aufrechterhaltung einer angemessenen Alterssicherung erschwert werde.
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Mit der Widerspruchsbegründung legte der Kläger dem Beklagten ein auf den 13. August 2008 datierendes Schreiben der Lebensversicherung vor, in dem diese bestätigte, dass die Rentenversicherung des Klägers mit Beginn des 1. November 2001 mit fünfjähriger Beitragszahlungsdauer abgeschlossen worden sei. Der Jahresbeitrag habe jeweils 10.226,44 EUR betragen und sei in fünf Raten eingezahlt worden. Diese Einzahlungen hätten aus einem vom Kläger gehaltenen Fonds der Versicherungs-Kapitalanlagegesellschaft (heute ...) hergerührt.
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Mit Widerspruchsbescheid vom 10. Februar 2009 wies der Beklagte den Widerspruch des Klägers gegen den Ablehnungsbescheid vom 6. Oktober 2008 als unbegründet zurück. Zur Begründung hieß es: Im Oktober 2000 seien dem Kläger vier Versicherungspolicen der mit einem Betrag von insgesamt 98.385,71 EUR ausgezahlt worden. Ein Jahr später, im November 2001, habe der Kläger den noch bestehenden Rentenversicherungsvertrag bei der ... unter der Policennummer ... abgeschlossen. Nachweise, dass das Schmerzensgeld in einem der im Jahre 2000 aufgelösten Versicherungsverträge angelegt und in die bestehende ...-Rentenversicherung überführt worden sei, lägen keine vor. Die Versicherung bestätige dem Kläger zwar mit Schreiben vom 13. August 2008 die fünf fälligen Jahresbeiträge von 10.226,44 EUR aus einem bei ihr bestehenden Kapitalanlagefonds erhalten zu haben. Nicht nachgewiesen werden können habe aber auch hier die Anlage dieses Fonds aus Mitteln der Schmerzensgeldleistungen aus dem Jahre 1995. Die eidesstattliche Versicherung vom 2. September 2008 könne einen Nachweis nicht ersetzen. Daher sei das Schmerzensgeld nur im prozentualen Umfang der noch bestehenden Rentenversicherung als Schonvermögen zu werten gewesen. Damit werde dem Umstand, Schmerzensgeld als Schonvermögen anrechnungsfrei zu belassen, Rechnung getragen. Die besondere Härtevorschrift des § 90 Abs. 3 Satz 2 SGB XII sei vorliegend nicht anwendbar. Sie beziehe sich allein auf Leistungen nach dem Fünften bis Neunten Kapitel des SGB XII. Der Kläger aber habe Leistungen nach dem Vierten Kapitel des SGB XII beantragt. Der Widerspruchsbescheid wurde am 28. Februar 2009 zugestellt.
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Am 24. März 2009 hat der Kläger Klage zum Sozialgericht Karlsruhe erheben lassen.
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In der mündlichen Verhandlung hat der Beklagte im Hinblick auf die bei der Vermögensfreigrenze zu berücksichtigende Bestimmung des § 1 Abs. 1 Nr. 1 b Barbetragsverordnung das folgende vom Kläger angenommene Teilanerkenntnis abgegeben:
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„Der angefochtene Bescheid vom 6. Oktober 2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 10. Februar 2009 wird insoweit abgeändert, als das Schonvermögen nunmehr anstatt in Höhe von 6.969,83 EUR mit einem Betrag von 9.569,83 EUR (6.969,83 EUR - Schmerzensgeld - + 2.600 EUR - allg. Freibetrag -) anerkannt wird.“
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Der Kläger ist der Auffassung, die Beklagte verhalte sich ihm gegenüber auch unter Berücksichtigung des angenommenen Teilanerkenntnisses unbillig hart. Zum Zeitpunkt der Auszahlung der Schmerzensgeldleistung sei der Kläger 23 Jahre alt gewesen. Er habe an einem schweren Schädel-Hirn-Trauma verbunden mit hirnorganischen Persönlichkeitsveränderungen und gravierenden Einschränkungen des Konzentrations-, Aufmerksamkeits- und Erinnerungsvermögens gelitten. Daran leide er auch heute noch. Er sei deshalb auch nicht in der Lage gewesen, selbst den Geldfluss der erhaltenen Schadensersatz- und Schmerzensgeldleistungen im Einzelnen zu dokumentieren. Die Gesamtsumme in Höhe von 425.000,-- DM sei in verschiedenen Fonds und Versicherungen angelegt worden. Wäre ihm schon damals ein Betreuer zur Seite gestellt worden, wie es in der sozialmedizinischen Stellungnahme des Ärztlichen Dienstes der Bundesagentur für Arbeit in ... vom 27. Februar 2008 empfohlen worden sei, hätte dieser darauf achten können, dass die Schmerzensgeldsumme in Höhe von 100.000,-- DM separat angelegt worden wäre. Das dies nicht geschehen ist, könne dem Kläger nicht angelastet werden. Durch den unverschuldeten Unfall im Jahre 1991 sei der Kläger im Alter von 19 Jahren der Möglichkeit beraubt worden, seine finanzielle Existenz irgendwann einmal aus eigenen Kräften absichern zu können. Er habe seit 1995 seinen Lebensunterhalt mit Hilfe der Schadensersatzleistung bestritten. Auch die Schmerzensgeldsumme habe er zum Zeitpunkt der Antragstellung bereits teilweise aufgebraucht gehabt. Der Restbetrag habe ihm nach dem Willen des Gesetzgebers als Schonvermögen zu verbleiben.
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Der Kläger beantragt sodann zuletzt,
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den Bescheid des Beklagten vom 6. Oktober 2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10. Februar 2009 und beide in der Fassung des Teilanerkenntnisses vom 27. Januar 2010 abzuändern und den Beklagten zu verurteilen, ihm auf seinen Antrag vom 24. April 2008 Leistungen der Grundsicherung bei Erwerbsminderung nach dem SGB XII ab Antragstellung in gesetzlicher Höhe ohne jede Anrechnung der 1995 erlangten Schmerzensgeldzahlung von 100.000 DM bei einem Vermögensbestand von 29.629,42 EUR im April 2008 zu gewähren.
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Der Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Der Beklagte ist weiter der Auffassung, es sei weder glaubhaft noch nachgewiesen, dass der Kläger zuerst die Schadensersatzleistungen und erst im Anschluss daran das Schmerzensgeld zur Bestreitung des Lebensunterhalts herangezogen habe. Dies folge daraus, dass die Gesamtsumme der Ausgleichszahlungen in diversen Fonds und Versicherungen angelegt und diese nacheinander auch im Gesamten verwertet worden seien. Es sei daher davon auszugehen, dass der Rückkaufwert der Rentenversicherung zum einen aus einem Teil der Schmerzensgeldzahlung und zum anderen aber auch aus einem Teil der restlichen Schadensersatzzahlungen resultiere. Genau diesem Umstand sei zur Vermeidung einer unbilligen Härte für den Kläger durch die prozentuale Anrechnung des Schmerzensgeldes in der noch bestehenden Rentenversicherung entsprechend der Höhe der Auszahlung des Schmerzensgeldes in der Gesamtsumme der Ausgleichszahlungen aus dem Jahre 1995 Rechnung getragen worden. Damit sei auch dem Rechtsgedanken des § 90 Abs. 3 SGB XII hinreichend Rechnung getragen.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der dem Gericht vorliegenden Behördenakten und den Inhalt der Prozessakte (S 4 SO 1302/09) Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

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Die zulässig erhobene Klage hat in der Sache Erfolg.
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Der Bescheid des Beklagten vom 6. Oktober 2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10. Februar 2009 und beide in der Fassung des Teilanerkenntnisses vom 27. Januar 2010 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten, soweit darin ein geringerer Betrag als 29.629,42 EUR als Schmerzensgeld-Schonvermögen - Vermögensbetrag zum Zeitpunkt der Antragstellung im April 2008 - anerkannt wird. Dem Kläger stehen ab Antragstellung Leistungen der Grundsicherung bei Erwerbsminderung gemäß §§ 41 ff SGB XII zu. Der dauerhaft voll erwerbsgeminderte Kläger (vgl. Gutachten der Agentur für Arbeit Pforzheim vom 10. Februar 2008) ist insbesondere hilfebedürftig, weil er seinen notwendigen Lebensunterhalt nicht aus eigenem Einkommen oder eigenem Vermögen nach den §§ 82 bis 84 und 90 SGB XII decken kann.
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Dass der voll erwerbsgeminderte Kläger einkommenslos ist, ist zwischen den Beteiligten unstreitig. Ihm steht weder Arbeitslosengeld II noch Erwerbsminderungsrente zu. Im Übrigen ist nach § 83 Abs. 2 SGB XII eine Entschädigung, die - wie hier das Schmerzensgeld - wegen eines Schadens der nicht Vermögensschaden ist und nach § 253 Abs. 2 BGB geleistet wird, nicht als Einkommen zu berücksichtigen.
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Streitig ist allein die Frage der Vermögensanrechnung nach § 90 SGB XII. Gemäß § 90 Abs. 1 SGB XII ist das gesamte verwertbare Vermögen zur Deckung des Lebensunterhalts vorrangig vor der Inanspruchnahme von Sozialhilfe einzusetzen. Nach § 90 Abs. 3 Satz 1 SGB XII darf die Sozialhilfe aber nicht vom Einsatz oder von der Verwertung eines Vermögens abhängig gemacht werden, soweit dies für den, der das Vermögen einzusetzen hat, und für seine unterhaltsberechtigten Angehörigen eine Härte bedeuten würde. Satz 2 der Norm bestimmt, dass dies eine Leistung nach dem Fünften bis Neunten Kapitel des SGB XII insbesondere dann der Fall ist, wenn eine angemessene Lebensführung oder die Aufrechterhaltung einer angemessenen Alterssicherung wesentlich erschwert würde.
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Anders als noch in den Ausführungen des Widerspruchsbescheids erkennt der Beklagte entsprechend seinem prozessualen Vortrag im Rahmen der Klageerwiderung mittlerweile zu Recht ausdrücklich an, dass die allgemeine Härteklausel des § 90 Abs. 3 SGB XII im Falle der Schmerzensgeldzahlung zugunsten des Klägers grundsätzlich anwendbar ist, obgleich dieser Leistungen nach dem Vierten Kapitel des SGB XII beantragt hat. Dies entspricht auch ständiger höchstrichterlicher Rechtsprechung (vgl. Bundessozialgericht, Urteil vom 15. April 2008, B 14/7b AS 6/07 R, JURIS Rn. 17 m. w. N.). Soweit sich der Beklagte zunächst auf den Wortlaut des § 90 Abs. 3 Satz 2 SGB XII gestützt hatte, hat er das Wort „insbesondere“ und damit den Beispielcharakter der Norm überlesen oder missverstanden. Der Sache nach muss der Beklagte davon auch bereits bei Erlass der angefochtenen Bescheide ausgegangen sein. Anders lässt sich die teilweise Anrechnung des Schmerzensgeldvermögens des Klägers als Schonvermögen nicht erklären.
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Indes hat der Kläger nicht nur Anspruch auf eine teilweise, sondern auf die volle Anerkennung des von ihm im Jahre 1995 von einer privaten Versicherung erhaltenen Schmerzensgeld als sozialhilferechtliches Schonvermögen, das der Gewährung von Leistungen der Grundsicherung bei Alter und Erwerbsminderung nach dem Vierten Kapitel des SGB XII nicht entgegensteht. Dass Schmerzensgeld als sozialhilferechtliches Schonvermögen anzuerkennen ist, entspricht ständiger höchstrichterlicher Rechtsprechung, zunächst zu § 88 Abs. 2 BSHG, der Vorgängernorm des § 90 Abs. 3 SGB XII, und sodann zu § 90 Abs. 3 SGB XII (vgl. nur Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 18. Mai 1995, FEVS 46, 57 und Bundessozialgericht, Urteil vom 15. April 2008, B 14/7 b AS 6/07 R jeweils m. w. N.). Mit der Ausnahmevorschrift des § 90 Abs. 3 SGB XII sollen nämlich die atypischen Fälle erfasst werden, bei denen der Zweck der Vorschrift über das Schonvermögen, eine wesentliche Beeinträchtigung der vorhandenen Lebensgrundlagen, insbesondere eine wirtschaftlichen Ausverkauf des Leistungsberechtigten und damit eine Lähmung des Selbsthilfewillens zu vermeiden, aufgrund der besonderen Umstände des Einzelfalls ebenfalls erfüllt wird, ohne dass das Vermögen in einem der durch § 90 Abs. 2 SGB XII besonders geschützten typischen Sachverhalte eingeordnet werden könnte.
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So verhält es sich insbesondere beim Schmerzensgeld. Das Schmerzensgeld wird gemäß § 253 Abs. 2 BGB (früher § 847 BGB) im Fall der Verletzung des Körpers, der Gesundheit, der Freiheit oder der sexuellen Selbstbestimmung wegen eines Schadens gewährt, der nicht Vermögensschaden ist (sogenannter immaterieller Schaden). Der Verletzte soll dadurch zum einen in die Lage versetzt werden, sich Erleichterungen und andere Annehmlichkeiten anstelle derer zu verschaffen, deren Genuss ihm durch die Verletzung unmöglich gemacht wurde; ihm soll also Ausgleich für entgangene Lebensfreude ermöglicht werden. Zum anderen hat das Schmerzensgeld auch Genugtuungsfunktion. Es hat damit keinen Versorgungscharakter und soll nicht zur Deckung des Lebensunterhalts dienen, sondern dem Verletzten gerade Annehmlichkeiten über seinen Grundbedarf hinaus verschaffen (vgl. so klar und eindringlich VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 25. Mai 1993, FEVS 44, 290, ständige Rechtsprechung). Dementsprechend ist das Schmerzensgeld auch in seiner ganzen noch vorhandenen Höhe geschützt und nicht nur in einem bestimmten festen oder prozentualen Anteil (vgl. Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 18. Mai 1995, a. a. O.). Das Schmerzensgeld ist dem entsprechend eine Leistung, die die Sozialhilfe nicht kennt und die deshalb anrechnungsfrei bleiben soll (vgl. Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 20. April 2006, L 8 SO 50/05, JURIS Rn. 29; Schellhorn, in Schellhorn/Schellhorn/Holm, SGB XII, 17. Aufl., 2006, Kommentar, § 90 Rn. 77; Lücking, in Hauck/Noftz, SGB XII, Kommentar, Loseblatt, Stand Dez. 2005, § 90 Rn. 70).
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Wird das Schmerzensgeld als Kapital in einem Betrag ausgezahlt, wird es im Zuflussmonat als Einkommen angesehen; der nach Ablauf des Monats nicht verbrauchte Teil wächst dem Vermögen zu und ist nach der Vorschrift des § 90 Abs. 3 SGB XII (früher § 88 Abs. 3 BSHG) zu beurteilen. Hierzu hat das Bundesverwaltungsgericht entschieden, dass der Einsatz von Schmerzensgeld als Vermögen für den Hilfesuchenden grundsätzlich eine Härte im Sinn von § 88 Abs. 3 BSHG (jetzt § 90 Abs. 3 SGB XII) bedeutet (Urteil vom 18. Mai 1995 - 5 C 22/93 - BVerwGE 98, Seite 256 = FEVS 46, Seite 57). Aus diesem Grunde ist das dem Kläger 1995 in einem Betrag als Kapital ausgezahlte Schmerzensgeld nicht als Vermögen zu berücksichtigen. Entsprechendes gilt für die Zinsen, die aus dem Kapital des Schmerzensgeldes herrühren (vgl. Wolf, in Fichtner/Wenzel, SGB XII, Kommentar, 4. Aufl. 2009, § 90 Rn. 22).
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Richtig ist freilich, dass diese Privilegierung nur dann gilt, wenn das fragliche Vermögen tatsächlich aus einer Schmerzensgeldzahlung im Sinne von § 253 Abs. 2 Bürgerliches Gesetzbuch - BGB - herrührt. Ob dies der Fall ist, ist eine tatsächliche Feststellung, die die Instanzgerichte zu treffen haben (vgl. Bundessozialgericht, Urteil vom 15. April 2008, a. a. O.). Zwischen den Beteiligten unstreitige Tatsache ist vorliegend, dass dem Kläger im Jahre 1995 100.000,-- DM Schmerzensgeld im Sinne von § 253 Abs. 2 BGB wegen der von ihm erlittenen Autounfallfolgen aus dem Jahr 1991 zugeflossen sind. Weiter unstreitige Tatsache ist, dass der Kläger zum Zeitpunkt der Antragstellung beim Beklagten - im April 2008 - noch über ein Vermögen von noch 29.629,42 EUR, angelegt in eine Rentenlebensversicherung bei der ... AG, verfügt hat. Ferner steht fest, dass der Kläger neben der Schmerzensgeldzahlung von 100.000,-- DM im Jahr 1995 eine Schadensersatzzahlung wegen des von ihm 1991 erlittenen Verkehrsunfalls in Höhe von weiteren 325.000,-- DM erhalten hat. Dieser Geldbetrag ist dem Kläger mit einer Überweisung zugeflossen. Entsprechend des in einer Zahlung zugeflossenen Geldbetrags ist dieses Geld dann auch vermischt in verschiedenen Vermögens- und Rentenfonds angelegt worden. Von diesen Vermögens- und Rentenfonds hat der nach dem Unfall schwerbehinderte und hirnorganisch wesensveränderte Kläger von 1995 bis heute, also über einen Zeitraum von immerhin annähernd 15 Jahren, gelebt und sich selbst versorgt. Dabei ist der Lebenszuschnitt des Klägers als sparsam zu bewerten (Ein-Zimmerwohnung, Kontobewegungen Februar 2008 - Mai 2008).
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Regelmäßig lässt sich im Fall einer Vermögensvermischung die Herkunft des Vermögens nachträglich nicht mehr oder nur noch schwer rekonstruieren, so auch im Fall des Klägers. Das gilt erst recht, wenn man berücksichtigt, dass der Kläger das Geld bereits 1995 „vermischt“ erlangt hat, weil der von der Versicherung des Schädigers auf sein Konto überwiesene einmalige Zahlbetrag formal betrachtet nicht nach Schmerzensgeld und Schadenersatz unterscheidbar gewesen ist. Dies spräche, wie vom Beklagten angenommen, in der Tat gegen eine Anerkennung des rentenversicherungsrechtlich angelegten Vermögens des Klägers als Schonvermögen im Sinne von § 90 Abs. 3 SGB XII. Diese Überlegung greift jedoch unter besonderen Umständen im Fall des Klägers erkennbar zu kurz. Anlässlich seines Verkehrsunfalls im Jahr 1991 hat der Kläger nämlich ein schweres Schädel-Hirn-Trauma mit Hirnblutung erlitten, das bei ihm zu einer hirnorganischen Wesensveränderung geführt hat. Derentwegen ist er als Schwerbehinderter (GdB 60) anerkannt und voll erwerbsgemindert (vgl. Gutachten Dr. ..., Agentur für Arbeit ..., 27. Februar 2008). In der Folge der stattgehabten hirnorganischen Wesensveränderung ist der Kläger aber seit 1991 durchgehend bis heute nicht in der Lage gewesen, die rechtlich notwendige Trennung der einzelnen materiell-rechtlichen Vermögensbestandteile - 100.000,-- DM Schmerzensgeld einerseits, 325.000,-- DM Schadensersatz andererseits - überhaupt nur zu erkennen, geschweige denn selbständig vornehmen und organisieren zu können. Ein Betreuer ist ihm 1991 oder 1995 nicht beigeordnet worden. Daher erscheint es dem erkennenden Gericht unverhältnismäßig, es dem Kläger heute, 15 Jahre nach Erhalt des Schmerzensgeldes, vorzuhalten, den 1995 erlangten Geldbetrag von 425.000,-- DM nicht gesondert und nach Schmerzensgeld und Schadenersatz getrennt angelegt und verwaltet zu haben. Dies widerspräche dem Charakter des § 90 Abs. 3 SGB XII, der ja gerade atypische Fallkonstellationen, wie diejenige des Klägers, erfassen und einen wirtschaftlichen Ausverkauf des betroffenen Leistungsberechtigten verhindern soll. Dementsprechend hat der Bevollmächtigte des Klägers das damit nicht zu vereinbarende Vorgehen des Beklagten in den angefochtenen Bescheiden im Ergebnis zutreffend mit den Worten einer „unbilligen Härte“ beschrieben.
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Ebenso wenig ist das erkennende Gericht der Auffassung, es liege "im Wesen" des Schmerzensgeldes, dieses zeitnah zur Kompensation der immateriellen Schäden einsetzen zu müssen. Ein Rechtssatz, wonach der Charakter des Schmerzensgeldes als Ausgleich für immaterielle Schäden verloren gehen könne, wenn der jeweils Betroffene dieses lediglich anspare und nicht verbrauche, ist nicht ersichtlich. Das Schmerzensgeld ist jeweils in seiner ganzen noch vorhandenen Höhe geschützt (vgl. BVerwGE 98, 256). Auch "angespartes" Schmerzensgeld ist insofern gemäß § 90 Abs. 3 SGB XII ebenso wie nach § 12 Abs. 3 Satz 1 Nr. 6 SGB II privilegiert. Es liegt innerhalb der Dispositionsfreiheit des Geschädigten, wie er mit den aus einem Schadensereignis resultierenden Beträgen zum Ausgleich des immateriellen Schadens umgeht (Bundessozialgericht, Urteil vom 15. April 2008, B 14/7b AS 6/07 R, JURIS Rn. 19; zur vergleichbaren Wertung bei "angespartem" Blindengeld vgl. Bundessozialgericht, Urteil vom 11. Dezember 2007 - B 8/9b SO 20/06 R -).
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Die Kostenentscheidung zu Lasten des Beklagten beruht auf § 193 SGG.
http://lrbw.juris.de/cgi-bin/laender_re ... s=1&anz=11
LG Emmaly
Alle von mir gemachten Angaben entsprechen meiner Lebenserfahrung und meinen Kenntnissen. Für die Richtigkeit wird nicht garantiert. Es findet keine Rechtsberatung statt. Sachfragen werden grundsätzlich nicht per E-Mail oder PN beantwortet.
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