Diskussion zu BFH III66/18 Ausschlussfrist für rückwirkende Gewährung von Kindergeld

Antworten
Benutzeravatar
kleinchaos
Moderator
Beiträge: 30950
Registriert: Mo 9. Feb 2009, 19:39
Wohnort: Leipzig
Kontaktdaten:

Diskussion zu BFH III66/18 Ausschlussfrist für rückwirkende Gewährung von Kindergeld

#1

Beitrag von kleinchaos »

viewtopic.php?f=82&t=27006

Dieses Urteil interessiert mich besonders, da ich immer wieder mit Bedürftigen zu tun habe, die erwachsene behinderte Kinder haben, oder selbst seit Kindheit behindert sind und denen mangels Beratung seit vielen Jahren Kindergeld vorenthalten wird.
Zur Erinnerung: wenn die Behinderung bereits im Kindesalter vorlag (auch wenn sie damals noch nicht amtlich auf Antrag festgestellt wurde) und die Behinderung eine bedarfsdeckende Erwerbstätigkeit unmöglich macht, kann der Behinderte bzw die Eltern Kindergeld lebenslang beanspruchen.

Nun habe ich mehrere Menschen dahingehend beraten und zu Überprüfungsanträgen angeregt. Bei zwei meiner Schützlinge kam folgendes Schreiben von der Familienkasse (sinngemäß): Anspruch seit 06/2016, ausgezahlt wird aber nur für ein halbes Jahr (und das auch noch falsch berechnet) mit dem Hinweis auf § 66 Abs 3 EStG. Der Widerspruch hiergegen wurde innerhalb einer Woche abgeschmettert, was schon auf eine standardisierte Antwort hinweist und das Ermessen völlig ausschließt.

Es haben wohl seit Jahren Antragsteller ähnliche Antworten erhalten, einige haben geklagt, was zu dem genannten Urteil des BFH geführt hat.

Frage an die rechtlich beschlagenen Experten: kann dieses Urteil auch auf das Behindertenkindergeld angewandt werden? Beispiele: 2 Ü-Anträge aus diesem Jahr, Behinderung seit der Kindheit vorhanden und anerkannt, FamK bestätigt Anspruch seit 2016, zahlt aber nur 6 Monate rückwirkend mit der Begründung des § 66 Abs 3 EStG
"Freiheit nur für die Anhänger der Regierung, nur für Mitglieder einer Partei - mögen sie noch so zahlreich sein - ist keine Freiheit. Freiheit ist immer Freiheit der Andersdenkenden." Rosa Luxemburg
Benutzeravatar
kleinchaos
Moderator
Beiträge: 30950
Registriert: Mo 9. Feb 2009, 19:39
Wohnort: Leipzig
Kontaktdaten:

Re: Diskussion zu BFH III66/18 Ausschlussfrist für rückwirkende Gewährung von Kindergeld

#2

Beitrag von kleinchaos »

Der Abs 3 des § 66 EStG ist übrigens weggefallen ;)
"Freiheit nur für die Anhänger der Regierung, nur für Mitglieder einer Partei - mögen sie noch so zahlreich sein - ist keine Freiheit. Freiheit ist immer Freiheit der Andersdenkenden." Rosa Luxemburg
Benutzeravatar
tigerlaw
Benutzer
Beiträge: 8256
Registriert: Mi 2. Feb 2011, 14:41
Wohnort: Bei Aachen/NRW

Re: Diskussion zu BFH III66/18 Ausschlussfrist für rückwirkende Gewährung von Kindergeld

#3

Beitrag von tigerlaw »

Im Regierungsentwurf zum Gesetz https://dip21.bundestag.de/dip21/btd/19/086/1908691.pdf steht (S. 65):
Zu Nummer 5
Zu § 66 Absatz 3
Durch Artikel 7 Nummer 6 Buchstabe c und Nummer 7 des Gesetzes zur Bekämpfung der Steuerumgehung vom
23. Juni 2017 (BGBl. I S. 1682) wurde § 66 Absatz 3 in das Einkommensteuergesetz eingeführt. Demnach wird
Kindergeld rückwirkend nur noch für die letzten sechs Monate vor Beginn des Monats gezahlt wird, in dem der
Antrag auf Kindergeld eingegangen ist. Dies gilt erstmals für Anträge, die nach dem 31. Dezember 2017 eingehen.
In der Gesetzesbegründung zu § 66 Absatz 3 heißt es (BT-Drucksache 18/12127): „Die Regelung soll verhindern,
dass für einen mehrjährigen Zeitraum in der Vergangenheit rückwirkend Kindergeld ausgezahlt werden kann.
Abweichend von der regulären Festsetzungsfrist von vier Jahren gemäß § 169 der Abgabenordnung sieht die Regelung vor, dass Kindergeld nur noch sechs Monate rückwirkend ausgezahlt werden kann. Das Kindergeld soll
von seiner Zwecksetzung her im laufenden Kalenderjahr die steuerliche Freistellung des Existenzminimums eines
Kindes sicherstellen. Hierfür ist eine mehrjährige Rückwirkung aber nicht erforderlich, da Anträge auf Kindergeld
regelmäßig zeitnah gestellt werden. In Fällen, in denen das Kindergeld vollständig der Familienförderung im
Sinne des § 31 Satz 2 EStG dient, ist ein Gleichklang mit der steuerlichen Festsetzungsfrist ebenfalls nicht erforderlich. Die Regelung bewirkt, dass das Kindergeld über die zurückliegenden sechs Monate hinaus nicht mehr
zur Auszahlung gelangen kann. Der materiell-rechtliche Anspruch wird hierdurch nicht berührt, was insbesondere
für an das Kindergeld anknüpfende Annexleistungen im außersteuerlichen Bereich von Bedeutung ist.“
Die Regelung des § 66 Absatz 3 betrifft nicht das Festsetzungsverfahren, sondern ist im Erhebungsverfahren anzuwenden. Sofern Kindergeld für einen vergangenen Zeitraum festgesetzt wird und dieser Zeitraum über den
Sechs-Monats-Zeitraum des § 66 Absatz 3 hinausreicht, wird das Kindergeld nur für die letzten sechs Monate
ausgezahlt, die vor dem Eingang des Antrags auf Kindergeld liegen. Zudem enthält der Kindergeldbescheid einen
Hinweis auf die Auszahlungsbeschränkung des § 66 Absatz 3.
Entgegen der Intention dieser gesetzlichen Regelung wird in der finanzgerichtlichen Rechtsprechung und im steuerrechtlichen Schrifttum die Auffassung vertreten, dass § 66 Absatz 3 im Festsetzungsverfahren zu berücksichtigen sei. Sofern Kindergeld rückwirkend für mehr als sechs Monate vor Antragstellung festgesetzt werde, stehe
§ 66 Absatz 3 der Auszahlung des festgesetzten Kindergeldes nicht entgegen. Im Ergebnis wäre das Kindergeld
unter Umständen für mehrere Jahre rückwirkend auszuzahlen.
Ausgehend von der ursprünglichen gesetzlichen Intention soll Kindergeld auch weiterhin nur für sechs Monate
rückwirkend ausgezahlt werden. Um klarzustellen, dass die Regelung das Erhebungsverfahren betrifft, wird Absatz 3 in § 66 aufgehoben und nunmehr in § 70 Absatz 1 Satz 2 und 3 aufgenommen.
Und auf S. 67 steht dann:
Zu Nummer 7
Zu § 70 Absatz 1 Satz 2 und 3 – neu
Die Regelung entspricht inhaltlich der bisherigen Regelung des § 66 Absatz 3. Aufgrund finanzgerichtlicher Entscheidungen war die Stellung im Gesetz zu verändern und die Formulierung präziser zu fassen (vgl. Begründung
zu Nummer 5).
Die nunmehr verwendete Formulierung „Auszahlung von festgesetztem Kindergeld“ macht offensichtlich, dass
die Festsetzung von Kindergeld vorausgesetzt wird und die Auszahlungsbeschränkung dem Erhebungsverfahren
zuzuordnen ist. Dies unterstützt auch § 70 Absatz 1 Satz 3, wonach der Anspruch auf Kindergeld nach § 62 von
der Auszahlungsbeschränkung des Satzes 2 unberührt bleibt.
Zudem befindet sich die Regelung nunmehr in § 70 „Festsetzung und Zahlung von Kindergeld“. Die Auszahlungsbeschränkung ist somit nicht mehr im Bereich der materiell-rechtlichen Voraussetzungen für den Anspruch
auf Kindergeld (§§ 62 bis 66) enthalten.
Anders ausgedrückt: Man ist und bleibt von der finanzgerichtlichen Rechtsprechung absolut unbeeindruckt und "zieht den Stiefel durch"!
Ich darf sogar beraten - bei Bedarf bitte PN!
Benutzeravatar
kleinchaos
Moderator
Beiträge: 30950
Registriert: Mo 9. Feb 2009, 19:39
Wohnort: Leipzig
Kontaktdaten:

Re: Diskussion zu BFH III66/18 Ausschlussfrist für rückwirkende Gewährung von Kindergeld

#4

Beitrag von kleinchaos »

Allerdings lohnt es sich wohl sicher, nach dem Urteil des BFH zu klagen?
"Freiheit nur für die Anhänger der Regierung, nur für Mitglieder einer Partei - mögen sie noch so zahlreich sein - ist keine Freiheit. Freiheit ist immer Freiheit der Andersdenkenden." Rosa Luxemburg
Benutzeravatar
Koelsch
Administrator
Beiträge: 89514
Registriert: Fr 3. Okt 2008, 20:26

Re: Diskussion zu BFH III66/18 Ausschlussfrist für rückwirkende Gewährung von Kindergeld

#5

Beitrag von Koelsch »

Denke ich auch
Frei nach Hanns-Dieter Hüsch, ist der Kölner überhaupt zu allem unfähig. Er weiß nix, kann aber alles erklären.
Deshalb kann von mir keine Rechtsberatung erfolgen, auch nicht per e-mail oder PN.
Benutzeravatar
tigerlaw
Benutzer
Beiträge: 8256
Registriert: Mi 2. Feb 2011, 14:41
Wohnort: Bei Aachen/NRW

Re: Diskussion zu BFH III66/18 Ausschlussfrist für rückwirkende Gewährung von Kindergeld

#6

Beitrag von tigerlaw »

Vermutlich aber wohl nur, wenn die Sache durch Einspruch "offengehalten" wurde.
Ich darf sogar beraten - bei Bedarf bitte PN!
Benutzeravatar
kleinchaos
Moderator
Beiträge: 30950
Registriert: Mo 9. Feb 2009, 19:39
Wohnort: Leipzig
Kontaktdaten:

Re: Diskussion zu BFH III66/18 Ausschlussfrist für rückwirkende Gewährung von Kindergeld

#7

Beitrag von kleinchaos »

Der Widerspruchsbescheid ist von voriger Woche
"Freiheit nur für die Anhänger der Regierung, nur für Mitglieder einer Partei - mögen sie noch so zahlreich sein - ist keine Freiheit. Freiheit ist immer Freiheit der Andersdenkenden." Rosa Luxemburg
Benutzeravatar
tigerlaw
Benutzer
Beiträge: 8256
Registriert: Mi 2. Feb 2011, 14:41
Wohnort: Bei Aachen/NRW

Re: Diskussion zu BFH III66/18 Ausschlussfrist für rückwirkende Gewährung von Kindergeld

#8

Beitrag von tigerlaw »

Dann binnen Monatsfrist Klage zum FG!
Falls ein Anwalt eingeschaltet ist: Beim FG fällt für die Verfahrensgebühr der Faktor
1,6 an, wie bei einer normalen Berufung!
Ich darf sogar beraten - bei Bedarf bitte PN!
der ratlose
Benutzer
Beiträge: 869
Registriert: Fr 20. Jul 2012, 09:24

Re: Diskussion zu BFH III66/18 Ausschlussfrist für rückwirkende Gewährung von Kindergeld

#9

Beitrag von der ratlose »

Wenn eine Falschberatung oder ein Unterlassen des Hinweises das die Leistung beansprucht werden kann, besteht , dann dürfte wohl auch das BGH Urteil
hinsichtlich des Schadenersatzes bei unterlassener Beratung zum tragen kommen.
Benutzeravatar
tigerlaw
Benutzer
Beiträge: 8256
Registriert: Mi 2. Feb 2011, 14:41
Wohnort: Bei Aachen/NRW

Re: Diskussion zu BFH III66/18 Ausschlussfrist für rückwirkende Gewährung von Kindergeld

#10

Beitrag von tigerlaw »

Ja, durchaus.
Ich darf sogar beraten - bei Bedarf bitte PN!
Benutzeravatar
kleinchaos
Moderator
Beiträge: 30950
Registriert: Mo 9. Feb 2009, 19:39
Wohnort: Leipzig
Kontaktdaten:

Re: Diskussion zu BFH III66/18 Ausschlussfrist für rückwirkende Gewährung von Kindergeld

#11

Beitrag von kleinchaos »

Danke Tiger, das bau ich noch mit ein
"Freiheit nur für die Anhänger der Regierung, nur für Mitglieder einer Partei - mögen sie noch so zahlreich sein - ist keine Freiheit. Freiheit ist immer Freiheit der Andersdenkenden." Rosa Luxemburg
Antworten

Zurück zu „Diskussionsbeiträge zu Urteilen“