SG Karlsruhe - S 12 AS 711/21 ER - § 70 SGB II verfassungswidrig

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Koelsch
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SG Karlsruhe - S 12 AS 711/21 ER - § 70 SGB II verfassungswidrig

#1

Beitrag von Koelsch »

Leitsatz:
Im einstweiligen Rechtsschutzverfahren ist der mit dem Sozialschutz-Paket III eingeführte § 70 SGB II
unbeachtlich, da er gegen das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland verstößt.
§ 70 SGB II kommt sowohl nach dem subjektiven Willen des Bundesgesetzgebers als auch nach
Maßgabe einer objektiven Auswertung der durch das Coronavirus SARS-Cov-2 bedingten
Veränderungen der Verbrauchsausgaben einkommensschwacher Haushalte eine existenzsichernde
Funktion zu.
Im Widerspruch zu den verfassungsgerichtlich erkannten Beurteilungsmaßstäben ist den BTDrucksachen zu § 70 SGB II in verfassungswidriger Weise nicht ansatzweise zu entnehmen, warum
eine Einmalzahlung für den Monat Mai 2021 in Höhe von 150,- € den Mehrbedarf aufgrund der
COVID-19-Epidemie für die Monate Januar 2021 bis Juni 2021 decken sollte.
Ferner wird das Grundrecht aus Art. 1 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Ab. 1 GG auch verletzt, weil § 70 SGB II n.
F. in seiner künftigen Gestalt ohne hinreichenden Grund für die bereits in den Leistungsmonaten
Januar 2021 bis April 2021 gegebenen Mehrbedarfe lediglich eine nachträgliche Leistungsgewährung
im Mai 2021 vorsieht, obgleich es sodann wegen des zwischenzeitlichen Zeitablaufs evidenter Maßen
schon zu spät sein wird, die Leistungen noch zweckentsprechend einzusetzen.
Des Weiteren verletzt § 70 SGB II n. F. den Anspruch auf die Gewährleistung eines
menschenwürdigen Existenzminimums für die Monate Januar 2021 bis April 2021 sowie Juni 2021
auch deswegen, weil in aus einem nicht verfassungslegitimen Grund die Leistungsgewährung
existenzsichernder Mittel nicht nur vom Ausmaß der aktuellen Hilfebedürftigkeit abhängen soll,
sondern auch davon, ob diese zu einem späteren bzw. früheren Zeitpunkt – nämlich: im Mai 2021 –
vorliegen wird.
Schließlich verletzt § 70 SGB II n. F. auch das allgemeine Gleichheitsgrundrecht, da kein Grund solcher
Art und solchen Gewichts ersichtlich ist, der eine Diskriminierung von
Grundsicherungsempfänger:innen rechtfertigt, welche im Mai 2021 aufgrund irgendwelcher
Zufälligkeiten nicht im grundsicherungsrechtlichen Sinne hilfebedürftig sind und infolgedessen vom
Schutzbereich der Norm nach ihrem unmissverständlichen Wortlaut auch in den übrigen
Kalendermonaten der ersten Jahreshälfte des Jahres 2021 gänzlich ausgeschlossen werden.
Eine Beschränkung des einstweiligen Rechtsschutzes dahingehend, dass die mögliche
Verfassungswidrigkeit des Gesetzes außer Betracht zu bleiben hat, besteht nicht.
Der einstweilige Rechtsschutz kann auch nicht mit dem Argument versagt werden, dass bei der
Gesetzgebung im Bereich der existenzsichernden Leistungen ein politischer Gestaltungsspielraum
gegeben ist.
Der normative Gesamtmaßstab für die qualitative und quantitative Feststellung dieses Mehrbedarfs
an MNBen ergibt sich aus einer integrativen Betrachtung des nach dem Grundgesetz garantierten
Existenzminimums an sozialer Teilhabe, der nach dem Strafgesetzbuch gebotenen Abwendung von
Gesundheitsschädigungen, des zur Gefahrenabwehr primär nach dem Infektionsschutzgesetz und
sekundär nach der Corona-Verordnung erforderlichen Tragens von Mund-Nasen-Bedeckungen in
hierfür geeigneter Qualität und Quantität sowie den beiden grundsicherungsrechtlichen Prinzipien
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des „Forderns“ zumutbarer Eigenbemühungen und des „Förderns“ individuell wie strukturell bedingt
dauerhaft hilfebedürftiger Mitmenschen in prekären Lebensverhältnissen mit entsprechend
herabgesetzter Anpassungsfähigkeit.
Dem Anordnungsanspruch des Mehrbedarfs an MNBen aus § 21 Abs. 6 SGB II steht nicht entgegen,
dass diesbezügliche Aufwendungen bereits durch den Regelbedarf nach § 20 SGB II gedeckt wären.
Zur Deckung ihres besonderen Schutzbedarfes gegen Infektionen mit dem Coronavirus SARS-CoV-2
steht Arbeitsuchenden ein subjektives Recht auf die Bereitstellung von medizinischen Mund-NasenBedeckungen zu, welche den Anforderungen der Standards FFP2 (DIN EN 149:2001), KN95, N95 oder
eines vergleichbaren Standards entsprechen, wobei den Trägern der Grundsicherung unbenommen
bleibt, anstelle dieser Sachleistung im Wege der Geldleistung ein höheres Arbeitslosengeld II zur
Deckung dieses Mehrbedarfs zu gewähren.
Die Anzahl des im Falle der Erbringung als Sachleistung anzuerkennenden Mehrbedarfs an FFP2-
Masken ohne Ausatemventil schätzt die Kammer gemäß § 202 SGG i.V.m. § 287 Abs. 2 ZPO für April
2021 und Mai 2021 weiterhin auf wöchentlich durchschnittlich 20 bzw. monatlich 86 neue
Exemplare. Dieser Bezifferung des FFP2-Masken-Bedarfs steht nicht entgegen, dass diese manchmal
bei sachgerechter Handhabe mehrmals verwendet werden können, nachdem sie sieben Tage
getrocknet worden sind.
Dieser geschätzte Mehrbedarf von wöchentlich 20 neuen FFP2- Masken wird sich prognostisch in
quantitativer Hinsicht mit überwiegender Wahrscheinlichkeit ab 01.06.2021 sukzessive wöchentlich
um jeweils 25 Prozent reduzieren und im Sommer 2021 (d. h.: ab dem 22.06.2021) nicht mehr
fortbestehen.
Die im Falle der Erbringung als Geldleistung fällige Höhe des Mehrbedarfs an FFP2-Masken schätzt
das Gericht auf 34,40 € monatlich.
Grundsicherungsempfänger:innen beziehen existenzsichernde Leistungen in aller Regel nicht aus
Bequemlichkeit, sondern, weil sie aus individuellen und gesellschaftlichen Gründen keinen gleichen
Zugang zu den Lebenschancen haben, welche der – insofern privilegierte und in Teilen ignorante –
Großteil der Bevölkerung für selbstverständlich hält.
Das bundesdeutsche Verfassungsrecht sieht in Art. 1 Abs. 1, Art. 14 Abs. 2 Satz 1 und 2 und Art. 20
Abs. 1 GG die Sozialpflichtigkeit nicht bei den Menschen, die bereits am untersten Rand des
Menschenwürdigen leben, sondern bei denen, die über ausreichend Privateigentum verfügen, denn
dessen Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen, während die Würde des
Menschen und das Prinzip des Sozialstaats unantastbar sind, vgl. Art. 79 Abs. 3 GG.
SG Karlsruhe 23.03.2021 S 12 AS 711_21.pdf
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Frei nach Hanns-Dieter Hüsch, ist der Kölner überhaupt zu allem unfähig. Er weiß nix, kann aber alles erklären.
Deshalb kann von mir keine Rechtsberatung erfolgen, auch nicht per e-mail oder PN.
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